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Kundgebung für Demokratie, Toleranz und Vielfalt: Rede der Bürgermeisterin im Video

28.01.2024 - aktualisiert am 22.02.2024 - 16:39

Kundgebung für Demokratie, Toleranz und Vielfalt: Rede der Bürgermeisterin im Video

Der 27. Januar ist ein geschichtsträchtiges Datum: Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Vernichtungslager Auschwitz. Bürgermeisterin Elke Kappen gedachte am jüdischen Mahnmal (Sesekedamm/Bahnhofstraße) mit ihren Stellvertretern und sowie Bürgerinnen und Bürgern der Opfer und legte einen Kranz nieder. Bei einer Kundgebung für Demokratie, Toleranz und Vielfalt am Vormittag auf dem Alten Markt, an der über 3.000 Menschen teilnahmen, mahnte die Bürgermeisterin, dass sich dieses dunkle Kapitel deutsche Geschichte nie wiederholen dürfe. Sie forderte die Kamenerinnen und Kamener auf, zusammenzustehen und sich zu engagieren, um ein Wiedererstarken von Rassismus und Antisemitismus zu verhindern. Sehen Sie hier das Live-Video des Hellweger Anzeigers zu der Veranstaltung.

(Copyright: Stefan Milk/Hellweger Anzeiger):

Redemanuskript für die Kundgebung für Demokratie, Vielfalt und Toleranz
27. Januar 2024
Es gilt das gesprochene Wort

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Anwesende,

ich stehe heute vor Ihnen, überwältigt und zugleich stolz über den Zuspruch, den diese Veranstaltung erfährt. Diese beeindruckende Resonanz zeigt mir: Wir sind nicht allein. Und besonders möchte ich betonen: Unsere Freunde mit Migrationsgeschichte – Ihr seid nicht allein.
Artikel 1 des Grundgesetzes mahnt uns: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Es ist die Verpflichtung aller staatlichen Gewalt, sie zu achten und zu schützen. Deshalb stehe ich heute hier und sage es deutlich: Aus diesem Grund stehen wir jetzt hier. Hinter diesem Artikel versammeln sich Menschen unterschiedlichster politischer Ansichten, Weltanschauungen, Religionen, Altersgruppen und Berufe. Doch vereint uns alle ein gemeinsames Ziel: Die Würde aller Menschen in unserem Land zu schützen.
Ich sage ungern, dass ich auf etwas Stolz bin. Aber heute bin ich es: Stolz auf Euch und auf all die vielen Menschen, die deutschlandweit auf die Straßen gehen, um dem braunen Spuk nicht auf dem Leim zu gehen. Ich bin stolz auf unser Grundgesetz, das unter den Eindrücken der Gräueltaten des Nazi-Regimes entstanden ist, das unserer Demokratie Mittel gibt, sich als wehrhafte Demokratie zu verteidigen, und das uns den klaren Auftrag gibt, uns heute hier zu versammeln.

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
Das Motto unserer Veranstaltung lautet heute unter anderem: Für Demokratie, Vielfalt und Toleranz. Und wir sagen gemeinsam: Nie wieder ist jetzt. Aber was bedeutet das? Nach dem 2. Weltkrieg und der Nazi-Diktatur schworen sich die Menschen, dass sich so etwas nie wiederholen dürfe – nie wieder! Und genau dieses "nie wieder" ist jetzt, es ist heute.
Ich denke oft an unsere Vergangenheit, an die Zeiten, als unsere Eltern und Großeltern gefragt wurden und als wir selbst sie fragten: Wie konnten die menschenverachtenden Nationalsozialisten die Macht in unserem Land übernehmen und einen Weltkrieg entfachen? Wusstet ihr nichts vom Massenmord an den Juden, von den Deportationen, von der Endlösung, von den Inhaftierungen und Hinrichtungen politisch Andersdenkender? Wusstet ihr nichts von den vielen Gräueltaten und grausamen Schicksalen, von den Nachbarn und Mitbürgern hier aus Kamen, die verhaftet, eingesperrt, gefoltert und vergast wurden? Die nie wieder zurückkamen?
Ich weiß, wie sehr sich viele unserer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern – sicher nicht alle – mit diesen Fragen gequält haben. Ja, es gab auch in den eigenen Familien Menschen, die Schuld auf sich geladen hatten. Ich weiß um diejenigen, die sich innerlich nie richtig distanziert haben von den Gräueltaten der Nazis, die sich unauffällig wieder in die Gesellschaft eingegliedert haben. Aber ich weiß auch um Menschen, die sich nach dem Krieg das Leben genommen haben, weil sie mit der Schuld, die sie mit sich trugen, nicht mehr leben konnten.
Ich weiß um den Spagat, um die Gewissensbisse, mit denen viele bis an ihr Lebensende kämpften. Doch heute, viele Jahre später, können wir uns nur schwer in ihre Lage versetzen. Die Frage bleibt: Was können wir verstehen, vielleicht akzeptieren oder entschuldigen? Oder anders ausgedrückt: Wo fängt die Grenze an, dass sich jemand schuldig gemacht hat?

Es sind Fragen, die wir hier auf dem Platz vielleicht unterschiedlich bewerten. Es sind Fragen, bei denen der eine unversöhnlich ist und der andere von der Gnade der späten Geburt spricht. Aber so unterschiedlich wir sind – aus verschiedenen Lagern, mit unterschiedlichen politischen, religiösen oder weltanschaulichen Vorstellungen – eines haben wir gemeinsam: den Auftrag, dass sich das, was sich zwischen 1933 und 1945 ereignet hat, nie wiederholen darf. Nicht in unserer Stadt, nicht in Europa und nirgendwo auf der Welt. Deshalb stehen wir hier gemeinsam, deshalb stehen wir auf, und deshalb werden wir auch so lange und immer wieder zusammenstehen, bis diese Gefahr gebannt ist.
Ich persönlich leite für mich aus der Geschichte den Auftrag ab, dass ich alles dafür tun werde, dass uns nicht dieselben Fragen gestellt werden, die wir unseren Eltern und Großeltern gestellt haben. Dass unsere Kinder und Enkelkinder im Schulunterricht erfahren, dass unter dem Stichwort „Remigration“ Millionen Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland vertrieben wurden. Deutsche Staatsbürger mit Zuwanderungsgeschichte, so wie es sich Rechtsextreme und AFD-Politiker ausgemalt haben. Und dies, obwohl diese Pläne im Vorfeld bekannt geworden waren und die Mehrheit geschwiegen hat.
Wir dürfen nicht zulassen, dass Minderheiten und politisch Andersdenkende in Deutschland in Angst leben müssen, obwohl sich 90 Jahre vorher schon einmal alles ereignet hat. Dass sich dies alles wiederholt, obwohl wir alle wissen, was sich seinerzeit in Deutschland ereignet hat. Dass Kinder, die hier geboren sind, ihre Eltern fragen, ob sie schon wissen, wohin sie auswandern können, wie der Spiegel berichtet. Kinder, die türkische Wurzeln haben und ihren Eltern von ihren „rein deutschen Freundinnen“ berichten. Die Schülersprecherin der Willy-Brandt-Gesamtschule in Bergkamen berichtet bei Antenne Unna, wie verunsichert ihre Mitschüler mit Migrationshintergrund sind.

Meine Damen und Herren, liebe Kamener,
Nie wieder ist jetzt! Wenn wir jetzt nicht aufstehen und uns gegen diese Entwicklung stellen, werden uns unsere Kinder und Enkelkinder einmal die Frage stellen, warum dies geschehen konnte. Deshalb ist es jetzt an der Zeit, dass wir uns zusammenschließen, unsere Unterschiede und Differenzen beiseiteschieben und uns darauf besinnen, was uns alle hier verbindet: unsere gemeinsamen Werte Demokratie, Freiheit, Vielfalt und Toleranz, unser Grundgesetz.
An dieser Stelle denke ich auch an Menschen wie Betty Pri-Gal aus Eilat, die Anfang des Monats verstorben ist. Sie war die letzte noch lebende Gründungsperson unserer Städtepartnerschaft mit Israel. Betty Pri-Gal hat den Holocaust überlebt und uns Deutschen die Hand gereicht. Für sie war die Städtepartnerschaft mit Kamen nicht nur ein Versöhnungsprojekt, sondern auch ein Lebensprojekt. Die Hand, die sie uns gereicht hat, werden wir niemals loslassen. Dafür stehen wir heute hier, und dafür werden wir auch in Zukunft hier stehen.
Blicken wir uns um, in unsere Nachbarschaft, in unseren Freundeskreis, dann sehen wir, dass das, was sich Reichsbürger, Rechtsextremisten und die Faschisten in ihren Köpfen ausmalen, nicht sein darf und kann. Mit und unter uns leben viele Menschen, die einen Migrationshintergrund haben. Stört uns das? Nein, ganz im Gegenteil. Sie leben hier, weil wir sie gerufen haben. Kamen ist ihr Zuhause, ihre Heimat. Ob im Sportverein, auf dem Spielplatz, am Arbeitsplatz oder in der Schule: Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit eigenen Sprachen, Biographien und kulturellen Unterschieden leben, wohnen und arbeiten in Kamen miteinander. Der Umgang mit Vielfalt ist vor Ort schon lange gelebte Realität und meistens eine große Selbstverständlichkeit.
Kamen hat eine reiche Geschichte, geprägt durch Handel und vor allem durch den Bergbau. Die Menschen, die einst vor allem unter Tage ihr Geld verdienten, kamen aus vielen Ländern. Die harte Arbeit und die Gefahren, die damit verbunden waren, führten zu einem starken Gefühl der Solidarität und zu einer Gemeinschaft, die auch heute noch in unseren Traditionen und in unserem Miteinander spürbar ist. Auch heute ist es noch so, dass viele Bereiche ohne zugewanderte Arbeitskräfte überhaupt nicht funktionieren würden. Die Pflege in unseren Krankenhäusern und ambulanten Pflegediensten könnte schon seit Jahren nicht mehr gewährleistet werden, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen.
Und sollen wir diese Pflegekräfte alle "remigrieren"? Sollen wir uns von den vielen Ärzten trennen, die uns behandeln? Sollen wir die Biontech-Gründer Professor Uğur Şahin und Dr. Özlem Türeci, die mit ihrem Corona-Impfstoff Millionen Menschen vor dem schweren Verlauf einer Corona-Infektion bewahrt haben, ebenfalls "remigrieren"? Und hat nicht eine angeblich demokratische Partei versucht, sie zu Menschen zweiter Klasse zu definieren?

Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer,
Unser Zusammengehörigkeitsgefühl macht Kamen zu dem, was es heute ist. In einer Zeit, in der sich die Welt immer weiter globalisiert, ist es zunehmend wichtig, kulturelle Vielfalt zu schätzen und zu feiern. Manch einer nennt das Entfremdung, wir nennen das Bereicherung. Und wir dürfen gerne in unserem Land, in Deutschland, leben und stolz darauf sein, dass es eine Demokratie ist. Kulturelle Vielfalt belebt unsere Stadt und bereichert die Gesellschaft. Gegenseitige Akzeptanz und Anerkennung schaffen die Grundlagen für ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben, das sich in allen gesellschaftlichen Bereichen längst fest etabliert hat. Das sollten wir wertschätzen, anstatt es schlechtzureden.
Und ich sage auch ganz klar: Ich möchte nicht darauf verzichten. Wir möchten uns nicht unsere Freunde nehmen lassen, mit denen wir seit unserer Kindheit in Kamen leben. Wir möchten uns nicht unsere Arbeitskollegen nehmen lassen, auf die wir uns jeden Tag wieder verlassen können. Wir möchten auch nicht auf Feuerwehrleute, Rettungskräfte und Polizisten mit Migrationshintergrund verzichten, die jeden Tag den Kopf für uns hinhalten. Das alles wollen wir nicht. Nicht in Kamen, und auch nicht darüber hinaus.
Und damit wir uns richtig verstehen: Dies ist unser Kamen, und dies lassen wir uns nicht nehmen. Es ist das Kamen vieler demokratischer Kräfte, die an einem Strang ziehen, wenn es um unsere Demokratie und die Würde des Menschen geht. Es ist das Kamen, in dem sich Menschen aus allen Ländern und aller Religionen zuhause fühlen und sagen dürfen: Dies ist meine Heimat, und hier lebe ich gern. Dies ist das Kamen, für das ich als Bürgermeisterin stehe.
Und Sie alle, die heute hier versammelt sind und jene, die heute gerne hier wären, zeigen dies. Dies zeigen auch die zahlreichen Unterstützer wie Sportvereine, Gewerkschaften, Kulturschaffende, Serviceclubs, Glaubensgemeinschaften, um nur einige Beispiele zu nennen. Dies zeigen auch die Ehrenamtlichen um Initiativen wie Pro Mensch und die Zivilcourage, die sich tagtäglich dafür einsetzen, wofür wir hier heute stehen. Ihnen allen möchte ich besonders danken, und ich sage: Ich bin stolz auf Euch. Das ist mein Kamen.

Glückauf!